D. Daphinoff u.a. (Hrsg.): Unsterblichkeit

Cover
Titel
Unsterblichkeit. Vom Mut zum Ende


Herausgeber
Daphinoff, Dimiter; Barbara, Hallensleben
Reihe
Theologie und Kunst 20
Erschienen
Heidelberg 2012: Universitätsverlag Winter
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hans Gerd Rötzer

Der vorliegende Sammelband hat eine Vorgeschichte. 2008 fand in Salzburg eine Tagung zu dem Thema «Utopien und Dystopien » statt. Das Spektrum der Referate reichte von den gesellschaftskritischen Insel-Utopien der frühen Neuzeit bis zu den warnenden Zukunftsvisionen «My» (E. I. Zamjatin), «Brave New World» (A. Huxley) und «1984» (G. Orwell) seit dem Ersten Weltkrieg. Diese Gegenutopien oder Mätopien – dem griechischen Präfix «δυσ-» (dys-) entspricht der deutsche Wortteil «miss-» (z. B. Misswirtschaft). Die Negation «μη-» wird im Griechischen als Warnung eingesetzt: Es möge nicht eintreten – sind durch die sensationelle Entwicklung der digitalen Informationskontrolle in einzelnen Aspekten heute bereits überholte Vergangenheit. Aus diesem Grunde und auch angesichts der enormen Fortschritte in der medizinischen Verbesserung der Lebensqualität und Lebenserwartung entstand der Vorschlag, sich in einer anschliessenden Tagung mit dem utopischen Menschheitswunsch nach «ewiger Dauer bzw. ewigem Leben, wie er namentlich in den Künsten – und speziell in der Literatur – Niederschlag findet» (VII), zu befassen. Das Leitthema für diese Nachfolgetagung an der Universität Freiburg/Schweiz im Oktober 2010 lautete «Unsterblichkeit» mit dem bezeichnenden Untertitel «Vom Mut zum Ende».

Nach den Hinweisen im einleitenden Vorwort auf die neuesten medizinischen bzw. naturwissenschaftlichen «Erfolge» (VII) ist man zunächst überrascht, dass im Reigen der Beiträger/innen die Geisteswissenschaftler unter sich bleiben. Doch dies hat seinen Sinn, wenn man das provokative Motto liest: «I don’t want to achieve immortality through my work, I want to achieve it by not dying.» (Woody Allen) Es ist die Umkehr der berühmten Verszeilen des Horaz: Er habe sich [mit seiner Kunst] ein Denkmal geschaffen, das dauerhafter sei als Erz (exegi monumentum aere perennius); solange die Erinnerung daran dauere, werde er nicht ganz sterben (non omnis moriar – Oden, III, 30). Man könnte auch Sallust erwähnen: In der Einleitung zu seiner Schrift De coniuratione Catilinae meint er, da unsere eigene Lebenszeit begrenzt sei, solle man sich darum bemühen, durch seine Werke in der Erinnerung der Nachwelt weiterzuleben (quoniam ipsa vita, qua fruimur, brevis est, memoriam nostri quam maxime longam efficere – Prooemium I, 3). Im Grunde gehen alle Aussagen über die Kunst als «memoriales» Weiterleben auf den griechischen Arzt Hippokrates zurück. Sie sind vielfach wiedergegeben worden, am kürzesten und griffigsten in der lateinischen Formulierung: «Vita brevis, ars longa.» (In seinem Buch Knappe Zeit – Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens [München 2004], das als Parallel-Lektüre sehr zu empfehlen ist, geht Harald Weinrich ausführlich auf die Überlieferungsgeschichte dieses hippokratischen Aphorismus ein.)

Schon die gegenläufige Ergänzung «Vom Mut zum Ende» signalisiert, dass der plakative Titel «Unsterblichkeit» ein hyperbolischer Euphemismus ist. Daher geht es in fast allen Beiträgen – mit Ausnahme der theologisch orientierten – nicht um die physische oder irgendwie jenseitige Unsterblichkeit des Einzelnen, sondern um die fortlebende Erinnerung an jemanden und an seine Taten. Diese «reale» oder «konkrete» Utopie gilt auch mutatis mutandis für die Gegenwart; sie ist der implizite Diskussionspunkt der meisten Einzelanalysen. Das Kernproblem ist die temporäre oder eschatologische Aufhebung der empirischen Endgültigkeit des Todes – entweder durch ein «Weiterleben» in der Erinnerung der Nachwelt oder durch die geglaubte Gewissheit eines Übertrittes in einen anderen Zustand.

Da die einzelnen Beiträger/innen sich je speziell mit den unterschiedlichen Aspekten des Begriffsfelds «Unsterblichkeit» beschäftigen, ohne allerdings auch immer ihre zugrunde liegende Definition näher zu skizzieren, ist es angebracht, der denotativen und konnotativen Bedeutungsvielfalt im Verlauf der Begriffsgeschichte, die durchgehend als bekannt vorausgesetzt wird, etwas nachzugehen. Ähnliches wäre allerdings in einer programmatischen Einleitung (statt einer rekapitulierenden Vorwegnahme der nachfolgenden Druckseiten) für den Leser hilfreich und sinnvoll gewesen.

Die in den Beiträgen zitierten antiken Quellen einschliesslich ihrer weiterführenden historischen Auslegung beziehen sich allein auf ein zeitliches Überdauern in der Erinnerung der Nachwelt. Begriffe wie Ewigkeit oder Unsterblichkeit tauchen in diesem Zusammenhang nicht auf; sie sind auf einer anderen Ebene der semantischen Traditionslinie zu suchen. Individuelle Unsterblichkeit ist sensu stricto eine subjektive Mutmassung, die empirisch nicht belegbar ist, sondern nur durch verkündete Offenbarung geglaubt wird. Man darf sie aber auch nicht mit einer Ewigkeit sine principio et fine verwechseln; denn Unsterblichkeit im theologischen Glaubensbereich hat immer einen Anfang durch die Schöpfung (Erschaffung der Welt, Einhauchen der Seele etc). Nur in den monistischen Vorstellungen der spekulativen griechisch- antiken Philosophie und im späteren Pantheismus sprach man von einer zeitlosen Einheit ohne Anfang und Ende, d. h. von einer Ewigkeit des Kosmos. Diese Ewigkeit hat aber nichts mit einer individuellen Fortdauer (oder genauer: mit einem individuellen Sein) im Ewigen zu tun, sondern vielmehr mit der Rückkehr des Vereinzelten in das Urganze, wie es in vielen dualistischen Systemen auch ausserhalb der vorsokratischen und platonischen Philosophie (z. B. im Buddhismus) beschrieben wird. Goethe hat in seinem Gedicht «Grenzen der Menschheit» mit dem Bild von den sich endlos reihenden Gliedern in einer ewig weiterführenden Kette einen versöhnenden Kompromiss zwischen persönlicher Fortdauer und kollektiver «Ewigkeit» oder «Unsterblichkeit» versucht: «Ein kleiner Ring / Begrenzt unser Leben, / Und viele Geschlechter / Reihen sich dauernd / an ihres Daseins / Unendliche Kette.» Aber auch dieses Gleichnis «hinkt», wenn man die Zeitlosigkeit der Ewigkeit, das Sein an sich, damit begreifen will; denn der Goethe’sche Vergleich kommt nicht ohne die Dimension der Zeit aus. Unsterblichkeit, wörtlich genommen, ist der Wunsch nach Aufhebung eines Prozesses ad mortem durch die Annullierung der Zeit. Sie ist kein Zustand an sich, sondern ein Protest gegen die kreatürliche conditio humana. In diesem Punkt treffen sich alle Beiträger/innen dieses Sammelbandes; sie beschreiben an literarischen oder gesellschaftsgeschichtlichen Beispielen die verschiedenen Modi auf der Suche nach einer Möglichkeit, die individuelle oder «nationale» Sterblichkeit, wenn auch nur temporär, aufzuhalten oder aufzuschieben. Es geht aber auch um die Einsicht, sich seiner kreatürlichen Begrenztheit bewusst zu werden und sie zu akzeptieren. Davon handelt, den Untertitel rechtfertigend, als einziger, und dies sehr pragmatisch, der erste Beitrag.

Der Band umfasst insgesamt 13 Beiträge. In der Abfolge des Inhaltsverzeichnisses: einen zu lebensphilosophischen Aspekten, einen weiteren zur Geschichte nationaler Mythen, zwei über kulturanthropologische Themen nationaler Identitätssuche, drei zur Theologie und sechs aus der Literaturwissenschaft über hyperbolische Spielformen der Attribute «unsterblich» und «ewig».

Mitten in der vorbereitenden Lektüre zu dieser Rezension las ich in der SZ vom 14. März 2012 folgende Notiz: «Sophie Rois, 50, Schauspielerin, steht der weit verbreiteten Sehnsucht nach einem langen Leben kritisch gegenüber. ‹Wir kommen immer mehr ins Zeitalter der Vampire›, sagte sie der Nachrichtenagentur dapd. ‹Es geht nur darum, möglichst lange zu leben. Und das erinnert an Untote.› Dieses Streben bestimme häufig den Alltag, da man versuche, möglichst gesund zu essen und nicht zu rauchen. ‹Angesichts der erschreckenden Möglichkeiten der Medizin sieht man sich selbst in so einer Zukunft, wo man ewig herumschleicht›, sagte die gebürtige Österreicherin.» Besser könnte der Beitrag von Jean-Claude Wolf «Zu lange leben? Gedanken zur Unsterblichkeit» nicht zusammengefasst werden. Gegen die Behauptung «Ein gutes Leben ist ein langes Leben » bringt er mehrere Einwände vor: 1. Der Wunsch, lange zu leben, gerate in Konflikt mit dem Wunsch, im Alter nicht schwer zu leiden oder sich zu langweilen. 2. Um nicht nach dem Motto «Nach mir die Sintflut» zu leben, müsse man den Generationenwechsel akzeptieren und bereit sein, Jüngeren Platz zu machen. 3. Für ein «erfülltes Leben» zähle nicht die Lebensdauer, sondern, was einer aus seinem Leben gemacht habe. 4. Die radikale Individualitätserfahrung heute habe zu einer utopischen Apotheose der «ewigen» Jugendlichkeit geführt und die Angst vor dem Ende verstärkt. Zwar gebe es in der Geschichte der Philosophie viele Erklärungsversuche für eine anonyme bzw. kollektive Fortdauer im All-Einen, aber diese Entwürfe «entziehen sich den Beweismöglichkeiten einer naturalistischen und empiristischen Philosophie» (13). Ähnliches gelte für theologische Aussagen. Eine Philosophie, die sich nicht als ancilla theologiae verstehe, «wird Religionen als symbolische Erzählungen ernst nehmen, aber wohl kaum als Berichte über eine Realität» (15).

In seinem Beitrag über Ursprungsmythen untersucht der Historiker Siegfried Weichlein den metaphorischen Missbrauch des Unsterblichkeitsbegriffes von der Begründung für eine nationale Identität bis zur Rechtfertigung einer säkularen Auserwähltheit. Diese auf gegenwärtige und zukünftige Macht ausgerichteten Propaganda-Mythen illustrieren das Konstrukt «einer originären Wesensprägung » (20) als Garantie «einer immerwährenden Kontinuität unter den Bedingungen historischen Wandels» (32). Sie können messianisch- eschatologischen Charakter haben, sie können die Kontinuität einer translatio imperii unterstreichen und sie können imperiale Überheblichkeit dokumentieren. Im Grunde sind sie das nicht eingestandene Aufbegehren gegen die historische Erfahrung vom Aufstieg, Zenit und Untergang einzelner Kulturen und Nationen.

Ähnlich ist die Argumentation auch in den beiden sozial-anthropologischen Beiträgen. Christian Giordano untersucht «The Illusion of Political Immortality», d. h. die vermeintliche Unsterblichkeit politischer Systeme durch einzelne charismatische Führergestalten oder durch eine in sich gefestigte «legal-bureaucratic domination» (41). Am Beispiel der Roma beschreibt Francois Ruegg, wie die nachgelieferte Fiktion eines Ursprungsmythos als Ersatz für das Fehlen eines eigenen nationalen Territoriums dienen muss. Dies gelinge aber nur über eine «origine mythique et une langue reconstituée». (48). Beides müsse die nicht existierende Geschichte ersetzen; denn Voraussetzungen für die «naissance d’une nation» (56) und ihrer Fortdauer seien sowohl der Mythos ethnischer Einheit und gemeinsamer Herkunft als auch die Schöpfung einer gemeinsamen Sprache und Kultur. Letztlich könne man aber nur von einer «immortalité des images» (64), d. h. von mythischen Stereotypen sprechen.

In den drei theologischen Beiträgen geht es um dogmatische Fragen, um Beispiele ekstatischer Ewigkeitserfahrung in der Mystik und um Möglichkeiten eines interreligiösen Diskurses über die Unsterblichkeit. Barbara Hallensleben verbindet mit der detaillierten Information über den Versuch des Dominikaners Thomas de Vio Cajetan (1469–1534), unter Berufung auf Aristoteles die Unsterblichkeit der Seele auch philosophisch nachzuweisen, einen historischen Abriss über die innerkirchliche Diskussion zur «Unsterblichkeit der Seele und Auferstehung des Fleisches » (65ff). Mariano Delgado hat drei Gedichte des Johannes vom Kreuz übersetzt und interpretiert. Alle Mystiker waren dem Paradox ausgesetzt, über mystische Erlebnisse zu schreiben, die, wie Johannes vom Kreuz selbst sagte, «indecibles» (84) seien. Das Eins-Werden in der unio mystica mit dem himmlischen Bräutigam wird bei vielen Mystikern, wenn auch mit unterschiedlichen Wortschöpfungen, jeweils als eine Art Austritt aus der Zeitlichkeit in das ewige Jetzt beschrieben, als eine Vorwegnahme «der endgültigen Begegnung mit Gott jenseits dieser irdischen Hülle» (95). Fast als ernüchternde Reaktion auf diesen mystischen Höhenflug konstatiert Franz Gmainer-Pranzl in seinem Beitrag «Hoffnung auf Unsterblichkeit?»: «Christliche Glaubensaussagen [...] antworten auf einen Anspruch, über den sie nicht verfügen.» (102) Der «Anspruch» ist die vermittelte Offenbarung, die sich nicht hinterfragen lässt; sie ist die rechtfertigende Voraussetzung für Antworten, die sich nur auf eben diese «Frohe Botschaft» berufen können. Um im interreligiösen Dialog aus dieser hermeneutischen Engführung herauszukommen, weist Franz Gmainer-Pranzl darauf hin, dass der Begriff «Unsterblichkeit» in den einzelnen Religionen und Kulturtraditionen ganz verschiedene Erwartungshorizonte und -vorstellungen beinhaltet oder voraussetzt. Nach seiner Meinung verbirgt sich im Kern aller Unsterblichkeitsparaphrasen «ein unaufgebbares Hoffnungsmoment» (118) künftiger Vollendung.

Die weiteren sechs Beiträge des Sammelbandes stammen von Literaturwissenschaftlern. Als übergeordnetes gemeinsames Leitthema könnte die lateinische Kurzform des hippokratischen Aphorismus stehen: Vita brevis, ars longa. Dies jedoch in nationalliterarisch und historisch differenten Variationen. Eloquent und mit einer redundanten Zitierfreudigkeit verfestigt Harald Fricke den programmatischen Satz «Kunst ist Freiheit vom Gesetz der Zeit» durch die «Wiederholbarkeit von real unwiederbringlichen Momenten » (122). In dem Beitrag über die «immortalité poétique dans le sillage de Pétrarque » (141) weist Thomas Hunkeler auf eine oft übersehene Doppelperspektive des vielfach zitierten horazischen Diktums hin: Nicht nur der Dichter verewigt sich, sondern mit ihm wird auch seine Kunst ein Anreiz oder Paradigma für nachahmenswerte literarische Gestaltungsformen. Das Neue in der italienischen und nachfolgenden europäischen Renaissance sei «un art à la fois immortel et immortalisant » (142); wobei im zweiten Hinweis auch die «Verewigung» der zitierten Gestalten gemeint ist. Einen Kontrapunkt zum traditionellen Wunsch nach der horazischen Perennität setzt Sabine Coelsch-Foisner mit dem Zitat von Mario Vargas Lllosa, dass der Wunsch nach literarischer Unsterblichkeit einer «obsession with the present» (154) gewichen sei. Sarah Herbe und Ralph J. Poole führen mit ihren Beiträgen zur «far future science fiction» (173) und zum aktuellen literarischen Vampirismus (185) wieder zum Ausgangsthema zurück: Individuelle Unsterblichkeit als eine wünschbare «Eutopie » oder als eine bedrohliche «Mätopie»? Zu diesem letzten Punkt referiert Dimiter Daphinoff in einem historischen Überblick nochmals «warnende» Beispiele aus der englischen Literatur.

Dieser Sammelband informiert insgesamt sehr ausführlich über die facettenreiche Mythentradition zum Thema «Unsterblichkeit». Ein bisschen vermisst man jedoch ergänzende Beiträge aus Medizin und Naturwissenschaft.

Zitierweise:
Hans Gerd Rötzer: Rezension zu: Dimiter Daphinoff/Barbara Hallensleben (Hg.), Unsterblichkeit. Vom Mut zum Ende, Heidelberg, Universitätsverlag Winter, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 761-764.